Ich bin seit Jahren Web-Entwickler. Mein Alltag spielt sich mehr in Browser-Tabs ab als in Kneipen oder Vereinen. Meine „sozialen Fähigkeiten“ habe ich mir nicht durch echte Begegnungen, sondern durch Kommentarspalten, Discord-Server und private Chats angeeignet. Das Internet ist mein Zuhause geworden – aber je länger ich hier wohne, desto klarer erkenne ich: Die Fassade bröckelt. Die Plattformen, die einst als Versprechen der Freiheit und Gemeinschaft entstanden, haben sich zu einem Spiegel des moralischen Verfalls entwickelt.
Clickbait und die Ökonomie der Aufmerksamkeit
Im Netz geht es nicht mehr darum, ob etwas wahr ist. Es geht darum, ob es klickt. Die Wahrheit ist langweilig, sie verkauft sich nicht. Aber Empörung, Angst, Wut – die sind marktfähig. Jeder Content ist ein Angelhaken, und wir sind die Fische, die unermüdlich zubeißen. Als Entwickler erkenne ich sofort, wie bewusst das gebaut ist: Überschriften, die triggern, Thumbnails, die schreien, Push-Nachrichten, die flackern wie Neonreklame. Alles darauf ausgelegt, nicht den Verstand, sondern das Reptiliengehirn anzusprechen.
Die Ironie dabei? Wir wissen es. Jeder von uns durchschaut das Prinzip – und trotzdem funktionieren wir genau so, wie es die Betreiber wollen. Wir sind längst nicht mehr Nutzer, sondern Versuchstiere in einem Labor, das Aufmerksamkeit in Profit umwandelt.
Blasenbildung und surreale Wirklichkeiten
Algorithmen sind wie Spiegelkabinette. Sie zeigen uns nicht die Welt, sondern eine verzerrte Version von ihr, maßgeschneidert auf unsere Klicks. Jeder von uns läuft in seiner eigenen Echokammer herum und glaubt, das sei Realität. In Wahrheit aber sind es nur Fragmente, die so oft auf uns zurückgespielt werden, bis wir sie für den ganzen Kosmos halten.
Ich ertappe mich oft selbst: Meine For-You-Page weiß besser, was mich interessiert, als ich selbst. Ein gruseliges Gefühl. Denn was nach „Personalisierung“ klingt, ist in Wahrheit Entmündigung. Wir geben Stück für Stück unsere Fähigkeit ab, selbst zu entscheiden, was relevant ist. Wir konsumieren nur noch, was man uns serviert. Das Ergebnis: eine surreale Identität, die im Digitalen existiert, aber im realen Leben oft nicht standhält. Innere Leere ist die logische Folge. Wer immer nur im Spiegelkabinett lebt, verliert irgendwann das Gefühl für die echten Konturen.
Wir sind das Produkt
Man erzählt uns, soziale Medien seien kostenlos. Aber das stimmt nicht. Wir zahlen mit uns selbst. Jeder Like, jedes Scrollen, jede Sekunde Bildschirmzeit – alles wird gesammelt, analysiert, monetarisiert. Wir sind die Ware, die weiterverkauft wird.
Als Entwickler sehe ich, wie sauber und gnadenlos diese Systeme gebaut sind: Tracking-Pixel, Cookies, Verhaltensprofile, A/B-Tests. Jede unserer Regungen wird aufgezeichnet. Und das Schlimmste? Es funktioniert. Wir kaufen Dinge, die wir nie wollten, wir klicken auf Produkte, die wir nie brauchten, nur weil sie uns im richtigen Moment über den Weg gespült wurden.
Es ist eine perfide Umkehrung: Soziale Medien geben uns das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein – und machen uns gleichzeitig zu isolierten Konsumenten. Wir sind keine Menschen mehr im digitalen Dorf, wir sind Datenpunkte in einer Excel-Tabelle.
Der permanente Vergleich
Es heißt, Vergleiche machen unglücklich. Und soziale Medien sind ein endloser Marktplatz des Vergleichs. Jedes banale Urlaubsfoto, jedes neue Paar Schuhe, jedes perfekt ausgeleuchtete Frühstücksei wird zur Währung im Spiel des „Schaut her, mir geht’s besser als euch“. Und wir alle spielen mit – ob wir wollen oder nicht.
Ich scrolle durch Feeds und ertappe mich dabei, unbewusst Bilanz zu ziehen: Reise ich genug? Arbeite ich genug? Bin ich glücklich genug? Das Netz hat den Vergleich industrialisiert. Und damit den Neid. Statt nach oben zu blicken, nach Inspiration zu suchen oder echte Ziele zu entwickeln, starren wir nach unten – auf die, denen es schlechter geht. Dort finden wir die trügerische Erleichterung, wenigstens nicht am Boden zu sein.
Doch was ist das für ein Leben, wenn wir unseren Selbstwert nur daran messen, ob es jemand anderem schlechter geht?
Die leere Mitte
Soziale Medien haben nicht den Menschen selbst verändert, sondern die Regeln des Spiels. Früher ging es um Wahrheit – heute geht es um Reichweite. Früher um Gemeinschaft – heute um Konsum. Früher um Selbstwert – heute um permanente Bewertung. Wir sind zu Statisten in einer Gesellschaft geworden, die ihre Energie aus Likes und Shares bezieht, aber inhaltlich leerer ist als je zuvor.
Es bleibt eine Gesellschaft zurück, die im Kleinen die Einzelnen zermürbt und im Großen ihre moralische Mitte verliert. Ein Ort, an dem wir nicht mehr fragen: „Was ist wahr?“, sondern nur noch: „Was triggert am meisten?“
Wir sind nicht die Nutzer des Internets – wir sind seine Ware
Das Internet war einmal das größte Versprechen meiner Generation. Ein offenes Feld, eine digitale Bibliothek von Babel, in der das Wissen der Welt auf Knopfdruck zugänglich ist. Ein Werkzeug, das jedem ermöglichen sollte, sich selbst zu bilden, sich zu vernetzen, Ideen auszutauschen und Projekte in einer Geschwindigkeit zu erschaffen, die zuvor undenkbar war.
Doch was machen wir heute damit? Wir nutzen vielleicht fünf Prozent davon. Den Teil, der uns am wenigsten fordert: Social Media, ein bisschen YouTube, eine schnelle Google-Suche, wenn wir vergessen haben, wie man eine Soße andickt oder wann die Mauer gefallen ist. Der Rest – der wahre Schatz, die Möglichkeit, Informationen zu durchdringen, Wissen zu verknüpfen, eigene Filter und Netzwerke zu bauen – verstaubt im Hintergrund.
Als Entwickler sehe ich es besonders deutlich: Wir haben Maschinen, die für uns Daten strukturieren könnten, die uns helfen könnten, Zusammenhänge zu verstehen und echte Probleme zu lösen. Wir könnten das Internet nutzen, um Forschung zugänglicher zu machen, Bildung gerechter, Kommunikation effizienter, Prozesse nachhaltiger. Doch all das geschieht kaum. Stattdessen lassen wir uns von Algorithmen führen wie Vieh durch einen engen Gang, der direkt zur Werbetafel führt.
Und warum? Weil es so gewollt ist. Ein Internet, das uns befähigt, kritisch zu denken, ist für Konzerne nutzlos. Ein Nutzer, der Informationen hinterfragt, klickt weniger. Ein Mensch, der Lösungen findet, konsumiert weniger. Also werden uns die leichten Wege serviert: die For-You-Page, die endlose Timeline, der „noch schnellere“ Content. All das, was uns bei der Stange hält, ohne uns zu ermächtigen.
So ist aus einem Werkzeug eine Krücke geworden. Statt uns aufzurichten, hält es uns gerade so über Wasser, damit wir weiterschwimmen im Strom der Belanglosigkeiten. Und das Tragische daran: Wir nehmen es hin. Wir scrollen, wir liken, wir vergleichen uns – und fühlen uns am Ende trotzdem leerer als zuvor.
Das Internet war das größte Versprechen einer kollektiven Intelligenz. Heute ist es eine Maschine, die uns kollektiv dumm hält – und dabei so raffiniert funktioniert, dass wir uns noch dankbar fühlen, wenn wir ein weiteres Video, eine weitere Anzeige, einen weiteren „Tipp für dein Leben“ serviert bekommen.
Wir hätten Werkzeuge. Doch wir nutzen sie nicht. Wir haben uns entschieden, Produkte zu sein – und Produkte brauchen keine Werkzeuge. Produkte brauchen nur Regale, in denen sie stehen, und Käufer, die sie konsumieren.
Und so hat das Internet uns am Ende nicht zu einer besseren Gesellschaft gemacht. Es hat uns zu besser verwertbaren Datenpaketen geformt.